Es ist ein heißer Frühlingstag. Fast so als könnte es der Frühling nicht erwarten ein Sommer zu werden, sich endlich in den vollen strahlenden Glanz der Sonne zu hüllen. Ich bin das erste Mal in der großen Stadt. Eine Freundin hat mich eingeladen ein wenig an der Freiheit zu schnuppern.
Ich bin dieses unsichere Kleinstadtmädchen, das noch nicht mutig genug ist um sich allen gegenüber zeigen zu können, aber schon ziemlich sicher ist, dass es existiert. Ich habe eine enge schwarze Hose und ein lila Top an. Ich fühle mich mutig, weil ich mich das traue, und ängstlich, weil das bedeuten kann, dass Menschen auf der Straße vielleicht etwas sehen könnten. Nicht unbedingt mich, aber doch etwas. Etwas das so wahr sein könnte, dass es mich angreifbar machen würde.
Wo ich herkomme, da misgendern mich die Menschen, aber zum Glück weiß ich noch nicht, dass es das überhaupt gibt, deshalb tut es nicht so weh. Ich weiß noch nicht, ob ich mich in der großen Stadt sichtbar machen will. Niemensch darf das von mir fordern, denn ich gehöre noch ganz mir selber und muss gut auf mich aufpassen, damit ich nicht kaputtgehe bevor ich bereit bin gänzlich in die Welt zu treten.
„Ich wohne an einem Ort, der dir gefallen wird“ hatte die Freundin gesagt, als wir uns das letzte Mal gesehen haben und ich das Offensichtliche und doch Ungesehene sichtbar gemacht hatte. Sie hatte mir die Hausnummer ziemlich bedeutungsaufgeladen mitgeteilt. Ganz so als würde ich schon wissen was der Straßenname und die Hausnummer meint, welche Magie davon ausgeht. Jetzt wo ich diesen Ort besuchen werde, bin ich aufgeregt und finde mich, obwohl ich noch nie da war, lieber jetzt schon nicht cool genug.
Unsicher steige ich aus der U Bahn. Ich hatte meinen Blick während der Bahnfahrt zu Boden gesenkt, denn ich wollte nicht wissen ob mich die Menschen, die mich umgeben, anstarrten oder gar nicht sehen konnten. Ich bin orientierungslos. Laufe nach links aus der Station, vorbei an einer punky Person mit Gitarre, die Straßenmusik macht. Ich verlaufe mich und renne tausendmal an Punky vorbei. Punky guckt mich an und lächelt „Hey you, wait, can I…“. Ich höre nicht alles, laufe schnell weiter. Ich mag meine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit nicht mit dir teilen. Eine gefühlte Ewigkeit später finde ich dann das Haus, ganz alleine. Es ist dreckig, bunt, schön und würde ich journalistische Arbeit machen und einen Artikel über schmuddelige Hausprojekte, blöde Punks oder gefährliche linke Strukturen schreiben – ich hätte gerade mein Coverbild gefunden. Ich bin überwältigt und sprachlos. Hier lebt eine Freundin? Hier darf ich ne Woche wohnen? Wow!
Das große Tor zum Hof ist offen, irgendjemensch scheint ein- oder auszuziehen. Wer anders drückt sich mit 3 Hunden an den Schleppenden vorbei in die Sonne. Ich klingel die Freundin an und setz mich vor das Haus. „Ok versuch wenigstens halb so cool zu sein wie dieses Haus und die Menschen hier“ denke ich, während mir meine Finger aus Nervosität wie von selbst eine Kippe drehen. Die Tür öffnet sich und heraus kommt Punky aus der U-Bahnstation. Fuck! Ich werde knallrot. Punky lächelt. „Hey hun, I just saw you in the sub, right? I just wanted to ask you if you want to come to this house… By the way, whats your name and your pronoun?“
Eine Mauer wird eingerissen und dahinter erstrahlt eine neue Welt. Ein Küken schlüpft aus der beengenden Dunkelheit des Eis und erblickt zum ersten Mal ungläubig die Sonne. Das hat mich noch nie irgendwer gefragt! Ich habe mich immer versteckt, hinter dem was Leute sehen und ertragen, was sie nicht sehen. Habe ausgehalten wenn sie mich doch sehen und anfeinden und manchmal ganz selten habe ich mich Menschen gezeigt. Und jetzt das! Diese Person fragt mich, wen sie sieht, mit einer Selbstverständlichkeit als wäre es normal, dass Menschen selber entscheiden dürften wer oder was sie sind. Als wüsste dieser Mensch das sich manche Menschen mehr verstecken müssten und als wäre das, was sie damit beschützten wertvoll und sollte eingeladen werden an die Oberfläche zu kommen, weil es verdient gesehen zu werden. Ich dachte bisher wenn ich gesehen werden wollte, müsste ich mich schon selber zeigen und jetzt werde ich gefragt.
„She“ sage ich und bin selbst überrascht, dass ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht habe. Ich schaue zu Boden und halte mich an meiner Zigarette fest.
War das mein Coming Out?